Der Augenblick, in dem sich Alter und Kindheit treffen, Vergehen und Werden – der Osten

In unserer Erlebnispädagogik arbeiten wir liebend gern mit Kreisen und Rädern, die in ihrer im Grunde genommen sehr einfachen Symbolik sehr viele Aspekte menschlichen Lebens beinhalten. Dies geschieht jeweils altersgemäß und auf eine Art und Weise, die zum Ausprobieren und Handeln einlädt. Im letzten Jahr haben wir uns im Sommerwaldlager mit dem Kreis der natürlichen Elemente befasst, In diesem Jahr soll es um den Kreis der vier Himmelsrichtungen gehen. In einer kleinen Reihe an Blogeinträgen wollen wir ein paar Worte zu den Himmelsrichtungen und ihrer symbolischen Bedeutung sagen.

In diesem letzten Kapitel über den Kreis der vier Himmelsrichtungen soll es – nachdem wir bereits den Süden, den Westen und den Norden bereist haben – um den wahrscheinlich geheimnisvollsten Teil des Kreises gehen: den Ostschild.

Es ist verhältnismäßig schwierig etwas Erklärendes zum Osten in dieser Symbolik der vier Winde zu schreiben. Da die anderen drei Himmelsrichtungen bestimmten Lebensaltern des Menschen zugeordnet sind, fällt es deutlich leichter zu bildhaften Assoziationen zu kommen. Der Osten hingegen ist zwischen Norden (Zeit des Alters) und Süden (Zeit der Kindheit) angesiedelt. Er steht für alle Formen von Übergängen und Passagen. Altes loslassen, um Neues werden zu lassen. Im Großen wie im Kleinen.
Im Osten ist das Knacken zu hören, wenn der kleine Schnabel des gerade schlüpfenden Kükens die Eierschale durchbricht. Wenn sich ungeahnte Perspektiven auftun, dann ist dies ein Gruß aus Fernost. Im Osten darf Altes, Verbrauchtes endlich gehen. Das Unschuldige und noch völlig Frische wird von den ersten Sonnenstrahlen beschienen.

Es ließe sich sicherlich noch viel über die Eigenschaften des Ostens sagen. Und doch würde dieser Schild Mysterium bleiben.

Im Sommerwaldlager begegnen wir dem Osten durch den Anbruch eines neuen Tages, der sich nah an der Natur sehr intensiv genießen lässt. Es ist ein Zeichen des Ostschilds, wenn die Sonne plötzlich wieder durch die Wolken bricht.
Bzgl. der Aktionen ist zu sagen, dass alle erlebnispädagogischen Maßnahmen in Wahrheit immer etwas mit dem Osten zu tun haben. Wir streben stets in unserer Profession immer danach Menschen Entwicklungsschritte zu ermöglichen. Sei es als Individuum oder als Gruppe. Wir wollen den Leuten – ob Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen – eine Hilfestellung geben, um einen neuen Schritt zu wagen. Daher ist auch Initiation ein so wichtiges Thema für uns. In der Vergangenheit haben wir alle Kinder, die Lust dazu hatten die Chance gegeben im Sommerwaldlager auf einem nächtlichen Wolfspfad quer durch den Wald zu wandeln und dadurch einen bewussten Schritt zu gehen. Auch in diesem Jahr wird es wieder Gelegenheiten geben – große und kleine – um zu reifen und weiterzugehen!

Zuletzt soll hier noch Hermann Hesse zitiert werden, der sich dem Osten, wie wir ihn hier verstehen, auf wunderbare sprachliche Weise angenähert hat:

Stufen
Hermann Hesse

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!